Quo vadis Helvetia?

Leserbrief zum Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, FN vom 13. und 19. Juni

Vor einer Generation waren es die Grauen Panther, jetzt sind es die Klimaseniorinnen, welche die behäbige Politik aufmischen. Dass sie mit ihrer Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) recht bekommen haben, verärgert, ja empört unsere rechten Politikerinnen und Politiker zutiefst. So empfehlen die Rechtskommissionen beider Kammern dem Bundesrat, das Urteil des EGMR schlichtweg zu ignorieren. Man(n) lässt sich halt nicht so gern einen Spiegel vorhalten!

Allerdings gibt mir diese Haltung sehr zu denken: Wie sind wir erschrocken, als sich Wladimir Putin über das Völkerrecht hinweggesetzt und die Ukraine unter fadenscheinigen Begründungen angegriffen hat und seither sämtliche Abmachungen des humanitären und des Kriegs-Völkerrechts ignoriert oder sogar gezielt ausreizt. Was sind wir konsterniert, dass Benjamin Netanjahu dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs einfach die kalte Schulter zeigt und noch rücksichtsloser die Gegend um Rafah mitsamt Flüchtlingslagern zerstören lässt. Und nun, wo eine internationale Rechtsprechung uns selber betrifft, tun unsere Behörden genau dasselbe: den Sachverhalt abstreiten und das Urteil ins Gegenteil verdrehen. Und rühmen sich dazu als souveräner Rechtsstaat… Der sich sonst doch immer als Hochburg der Tugend, als Vorzeigedemokratie und Hort der Rechtschaffenheit anpreist. Nun werfen sie dem EGMR Kompetenzüberschreitung vor, um sich in die Politik einzumischen. Aber ist es nicht eher umgekehrt: dass unsere Rechtspolitiker die Gewaltentrennung nicht respektieren, indem sie dem Gerichtshof die Legitimität absprechen und sein Urteil anzweifeln? Der Bundesrat kann doch einfach unaufgeregt dem EGMR melden, was schon getan und mittlerweile auch in die Wege geleitet wurde (zum Beispiel Stromgesetz), ohne beleidigt zu trötzelen. «Problematisch und dumm» nannte Anfang Juni alt Ständerat FDP und Staatsrechtsprofessor René Rhinow die Empfehlung der Ratskommissionen, das Urteil des EGMR einfach zu ignorieren. Peinlich und beschämend, würde ich noch beifügen! Quo vadis Helvetia?

Therese Wyss, Cordast