Nächsten Samstag begeht das Vereinigte Königreich mit viel Pomp die Krönungsfeier von König Charles III. Eine Spurensuche in London – auch in Ortsteilen, wo es ums Überleben und nicht ums Feiern geht.
In London bläst der Wind üblicherweise von Westen. Das ist heute so, und das war vor Jahrhunderten so, als die Stadt regelmässig in einen dicken Teppich von Feinstaub, Rauch und Abgasen gehüllt war. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich der Buckingham Palace, die königliche Residenz, am westlichen Rand der historischen Stadtgrenzen befindet, wo der Westwind frische Atlantikluft mit sich trägt.
Londons Luftverschmutzung ist heute weitgehend unter Kontrolle, der Standort des Buckingham Palace eine historische Anekdote. Hier im Westen der Stadt wird nächsten Samstag in einer bis ins Detail geplanten und aufwendig inszenierten Feier König Charles III gekrönt.
Vorbereitungen im Gange
Dem Buckingham Palace ist eine Woche vor den Feierlichkeiten nichts anzumerken. Der Königspalast türmt sich hinter verschlossenen gusseisernen Gittern auf, bewacht von Soldaten der königlichen Garde mit ihren unverkennbaren schwarzen Fellmützen. Vor den Toren des Palasts sind die Vorbereitungen indes in vollem Gange. Flaggen werden gehisst, Tribünen errichtet und kilometerlange Absperrungen aufgestellt. Die Mall, Londons Prachtstrasse, welche die königliche Prozession auf ihrem Weg zur Kirche Westminster Abbey abschreiten wird, ist seit Tagen für den Verkehr gesperrt.
Am Rand der Strasse sitzen zwei Männer und eine Frau auf Campingstühlen und schauen dem geschäftigen Treiben zu. Unter einer Plastikplane in der Nähe schauen Klappbetten und Decken hervor. «Wir harren seit vergangenem Donnerstag hier aus, damit wir den besten Platz haben», erklärt John aus London, der von Kopf bis Fuss mit Devotionalien des Königshauses geschmückt ist. Seine Augen leuchten auf, während er erklärt, wie am kommenden Samstag der König und seine Gattin direkt vor seinen Augen ihre Prozession beginnen werden.
Milliardenpublikum
Auf dem Weg ostwärts Richtung Westminster Abbey, wo die eigentliche Krönung stattfinden wird, säumen Souvenirläden den Weg. Sie alle haben Flaggen und Broschen mit dem Konterfei des Königs im Angebot. Die Kirche ist wegen der Vorbereitungen für die Feierlichkeiten für Besucher geschlossen. Im angrenzenden Park wird ein kleines Dorf aus Containern und Lastwägen errichtet, auf denen das Logo der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt BBC prangt – neben dem Königshaus eine weitere Institution, die in Grossbritannien Tradition verkörpert. Von hier aus werden am Samstag Bilder der Krönungsfeier in alle Ecken der Welt gesendet. Gemäss Schätzungen werden mehrere Milliarden Personen das Spektakel im Fernsehen verfolgen.
Auf dem Weg in das östlich gelegene Zentrum der Stadt werden die Zeichen der anstehenden Krönungsfeier spärlicher. The Strand, eine weitere Hauptverkehrsachse im Herzen Londons, ist mit Union Jacks, der britischen Nationalflagge, geschmückt. Eine enge Seitengasse führt zu einem traditionellen britischen Pub, benannt nach einer Mätresse von Charles II, englischer König im 17. Jahrhundert und Namensvetter des heutigen Königs.
In der Kneipe hängen einige Porträts von Charles III; an der Bar wirbt ein Zapfhahn mit dem Konterfei des Monarchen. Auf das königliche Bier angesprochen, hat der Barkeeper allerdings nur eine wenig romantische Erklärung parat und antwortet mit einer rhetorischen Frage: «Wieso stellt man an Weihnachten einen Tannenbaum auf? Damit man Geschenke kriegt!», so der Barkeeper, der in der Krönungsfeier offenbar in erster Linie eine potenzielle Umsatzsteigerung sieht.
Bingo und Finanzberatung
Ein Ortsbus – rot und doppelstöckig – bringt den neugierigen Beobachter aus dem Stadtzentrum hinaus und weiter in Richtung Osten der Stadt. Im Stadtteil Angel sind die einzigen Hinweise auf die anstehende Krönungsfeier einige Flaggen und Kronen aus Karton in grossen Supermärkten. Der Buckingham Palace ist hier nicht nur geografisch weit entfernt; die Bewohnerinnen und Bewohner haben andere Sorgen. Eine davon ist die im Vereinigten Königreich besonders hartnäckige Inflation, das Schlagwort «cost of living crisis» (Krise der Lebenshaltungskosten) ist in aller Munde. In Angel wirbt die Stadtverwaltung mit einem Quartierfest für Familien. Neben Zuckerwatte und Bingo sind auch Ratschläge zur Senkung von Lebenshaltungskosten im Angebot.
Östlich von Angel liegt der Stadtteil Hackney. Seine Strassen sind nicht nur bekannt für pulsierende Märkte, Musik und multikulturelle Restaurants, sondern auch für Bandenkriminalität und eine hohe Armutsrate. Gemäss jüngsten Schätzungen lebt rund ein Viertel der Kinder in Hackney in relativer Armut. An der Mare Street, die den Stadtteil von Norden nach Süden durchquert, reihen sich sogenannte Charity Shops aneinander, die gebrauchte Kleider und Haushaltsartikel für wohltätige Zwecke verkaufen. Alle weisen in ihren Schaufenstern darauf hin, dass Spenden dringend benötigt seien.
Realitätsferne
In einem kleinen Stadtpark in Hackney, angrenzend an eine Fussgängerzone, diskutiert Lynn mit zwei Bekannten. In den Händen hält die untersetzte Seniorin Plastiksäcke mit Lebensmitteln. Auf die anstehende Krönungsfeier angesprochen, winkt Lynn nur ab, um sich kurz darauf regelrecht in Rage zu reden. Sie bezichtigt die Königsfamilie der Realitätsferne und hält fest: «Niemand von denen hat je gearbeitet, und doch sind sie alle Millionäre.»
Ob mit dem Heranrücken des grossen Tags König Charles auch die Bürgerinnen und Bürger von Ostlondon in Feierlaune versetzen kann, bleibt offen. Hier, wo sich früher die Abgase der gesamten Stadt sammelten und wo die Bewohnerinnen und Bewohner heute mit neuen Problemen zu kämpfen haben, scheint er viele seiner Untertanen nicht zu erreichen.
Robin Beglinger hat mehrere Jahre als freier Mitarbeiter für die «Freiburger Nachrichten» gearbeitet. Derzeit weilt er im Rahmen seines Studiums der Rechtswissenschaften für ein Austauschsemester in London.
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